Christopher Wein: Das Massachusetts-Projekt – Zur Reform der Jugendanstalten in den USA 1969-2013

1969 – 1970: Der Beginn der Reform

Im Jahre 1969 gab es in Massachusetts fünf Jugendanstalten („training schools“), in denen 645 Probanden im Alter von 7-17 Jahren zur Erziehung untergebracht waren. In fünf weiteren Jugendanstalten („detention centers“) waren nochmals 250 junge Straftäter in gesicherter Verwahrung untergebracht, hier ging es weniger um die Erziehung, sondern um Schutz der Gemeinheit. Die Aufsicht über diese Einrichtungen führte die Division of Youth Services, die damalige Jugendhilfe. Diese war gesetzlich mit der Diagnose, der Inobhutnahme, der Inhaftierung und der Resozialisierung von delinquenten Kindern und Jugendlichen und jungen Straftätern beauftragt. Jugendgerichte verfolgten zu dieser Zeit die „parens patria“-Doktrin, welche Kinder und Jugendliche eine besondere Behandlung einräumt und sie als Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderungsbedarf definierte. Die jungen Täter sollten durch fördernde und unterstützende Maßnahmen resozialisiert und nicht wie ältere straffällig gewordenen Menschen, also Kriminelle über 17 Jahren, behandelt werden.

Das Strafverfahren in Massachusetts sah eine Trennung zwischen Schuldspruch, der vom Jugendrichter ausgesprochen wurde, und der Festlegung und Durchführung der Strafmaßnahme vor. Der Jugendrichter entschied über Schuldspruch, Freispruch oder Einstellung des Verfahrens. Des Weiteren lag es in seinem Entscheidungsbereich, ob Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht zur Anwendung kam und ob der Proband dem DYS oder der Bewährungsaufsicht unterstellt wurde. Die Delinquenten wurden von den zuständigen Gerichten hauptsächlich unter die Obhut der Jugendhilfe gestellt, die dann die geeigneten Maßnahmen und Programme wählte, um an der Rehabilitation der Probanden zu arbeiten.

In den Anstalten herrschten militärischen Strukturen. Unmittelbar nach der Ankunft wurden den Neuankömmlingen die Haare kurz rasiert und sie mussten ihre Kleidung gegen eine (Schul-)Uniform tauschen. Das einheitliche Marschieren in Formation stand nun auf ihrem Tagesprogramm. Zucht und Ordnung bestimmten den Alltag. Dabei handelte es sich bei den Inhaftierten im Schnitt um Personen im Alter von 10 Jahren.

Bereits vor Millers Amtsantritt gab es mehrere Studien, die die Missstände in den Jugendhilfe- und Jugendanstalten aufzeigten. Inhaftierte Kinder und Jugendliche wurden von den Anstaltsmitarbeitern geschlagen oder für lange Zeit in Isolationshaft gesteckt. Auch der Nahrungsmittelentzug bei nicht geduldetem Verhalten war ein übliches Mittel. Aufgrund dieser Missstände, wurde der Leiter der Division of Youth Services 1969 entlassen. Im gleichen Jahr wurden Gesetze verabschiedet, die eine Neuordnung der Jugendhilfe zur Folge hatten. Die Division of Youth Services wurde in das Department of Youth Services (DYS) umbenannt und dem Büro des Gesundheits- und Sozialwesens unterstellt. Der bis zu diesem Zeitpunkt vor allem durch Veröffentlichungen von Fachartikeln und Diskussionen zu verschiedenen Rehabilitationsthemen bekannt gewordene Ohio-State-Universitätsprofessor Dr. Jerome G. Miller wurde vom Gouverneur von Massachusetts Francis Sargent zum neuen Direktor vom DYS ernannt.

Die Zustände, die Miller kurze Zeit nach seinem Amtsantritt als neuer Direktor in den Jugendanstalten selbst vorfand, waren ausschlaggebend für seinen Reformationsdrang. Hinzu kam der durchgehende Anstieg der Rückfallquoten von ehemaligen Inhaftierten dieser Einrichtungen.

Miller machte als eines der Probleme die Aufenthaltsdauer in den Institutionen aus. Bei seinem Amtsantritt 1969 betrug diese durchschnittlich fast 8 Monate. Unter Berücksichtigung der begangenen Taten bzw. des delinquenten Verhaltens der Probanden war die Dauer unverhältnismäßig hoch. Viele Inhaftierte waren laut vorliegenden Berichten in den stationären Einrichtungen nicht richtig aufgehoben, da es sich bei ihnen vor allem um geistig zurückgebliebene junge Menschen, Schulverweigerer oder störrische und vernachlässigte Kinder und Jugendliche handelte und nicht um chronische Gesetzesbrecher.

Nach einem Jahr im Amt setzte Miller eine Richtlinie durch, die eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung nach 3 Monaten möglich machte. Die verringerte Aufenthaltsdauer sollte dazu beitragen, dass die Kinder und Jugendlichen möglichst schnell aus dem schlechten Umfeld der Anstalten entlassen werden konnten. Miller vertrat die Auffassung, dass die Strukturen und der Alltag in den Anstalten zu einer Verschlechterung des Verhaltens der Probanden beitrugen. Die verkürzte Haftzeit führte dazu, dass auch die Bildungs- und Berufsbildungsprogramme der Anstalten verändert werden mussten, da diese bis dato auf einen Zeitraum von 9-12 Monaten ausgelegt waren.

Mit institutioneller Fürsorge und therapeutischen Verfahren, die den Probanden Mitspracherechte einräumten, sollten die starren, hierarchischen „Kommandier- und Kontrollregime“ in den Anstalten, die lange Zeit den Alltag bestimmt hatten, abgelöst werden. Gleichzeitig führte Miller in allen Einrichtungen neue Regeln und Verhaltensvorschriften ein.

Millers Bemühungen zur Reformierung der Jugendanstalten trafen vor allem bei alteingesessenen Mitarbeitern auf großen Widerstand. Gegenwind erhielten seine Reformationsversuche auch durch die Polizei, die Jugendgerichte, aber auch die Bewährungshilfe und andere Institutionen. Diese empfanden die reduzierte Inhaftierungsdauer für nicht ausreichend, um die Probanden zu resozialisieren.

Bei vielen unangekündigten Inspektionen musste Miller feststellen, dass seine erlassenen Regeln nur von wenigen Mitarbeitern akzeptiert und getragen wurden. Die schlimmen Züchtigungspraktiken waren immer noch gängige Praxis. Er stellte fest, dass es keinen Sinn ergab, an den Besserungsanstalten festzuhalten, da keine positive Wirkung von ihnen ausging, sondern sie eher dazu beitrugen, dass Verhalten der Probanden und ihre Lebenssituation zu verschlechtern. Miller entschloss sich, die unmenschlichen Programme beenden und die Jugendanstalten schließen zu wollen.

1971 – 1973: Einschneidende Veränderungen

Mit einer kleinen Gruppe ausgewählter Mitarbeiter und Unterstützer plante Miller die einschneidenden Veränderungen im Jugendkriminalrecht. Millers Reform förderte u.a. die Dezentralisierung der Hilfen für jugendliche Straftäter. Die Aufteilung des Bundesstaats in 7 halbautonome Regionen sollte zu einer besseren Zusammenarbeit zwischen den regionalen Jugendgerichten, Bewährungshilfen, privaten Leistungserbringern und anderen Institutionen führen. Dies sollte eine bessere Diagnose der Einzelfälle begünstigen und Fallentscheidungen vereinfachen. Daraus versprachen sich Miller und sein Team eine Vermittlung der Probanden in optimale Rehabilitationsprogramme.

Um die Schließungen der Besserungsanstalten ausgleichen zu können, musste Miller wichtige Veränderungen herbeiführen. Es musste beispielsweise ein Finanzierungssystem geschaffen werden, welches der Jugendhilfe erlaubte, Verträge mit gemeinwesenorientierten Programme und privaten Anbietern schließen zu können. Da es Tagessatzregelungen o.ä. zu dieser Zeit noch nicht gab, mussten entsprechende Finanzierungsformen gefunden werden. Um die Hilfen optimal planen und koordinieren zu können, sollten regionale Büros die administrative Arbeit übernehmen. Natürlich war besonders die Entwicklung neuer stationärer, aber vor allem alternativer ambulanter Programme und Maßnahmen für die Probanden von besonderer Wichtigkeit.

Neben der Errichtung von staatlich geführten (teil-)stationären Angeboten, versuchte Miller ein Netzwerk von privat organisierten Angeboten im gesamten Bundesstaat aufzubauen und zu fördern. Nur Jugendliche, die schwere Verbrechen begangen oder die andere besondere Bedürfnisse (z.B. geistige Behinderungen etc.) hatten, sollten in den neu eingerichteten und vergleichsweise kleinen stationären Sicherungseinrichtungen untergebracht werden. Davon versprach er sich, die Ausgaben für die stationäre Unterbringung enorm zu reduzieren. Andere Programme sollten eine Rückführung in die Familien oder zumindest eine familiennahe Unterbringung in den Gemeinden ermöglichen. Dies sollte auch die Akzeptanz der Programme bei den Probanden fördern und gleichzeitig ihr kooperatives Verhalten während der Resozialisierungsmaßnahmen begünstigen.

Millers angestrebter Transformationsprozess war eine große praktische und logistische Herausforderung. Er und sein Team mussten die Risiken, die von den Probanden ausgingen, bewerten und ihren Hilfebedarf feststellen. Entsprechende alternative Programme mussten gefunden oder initiiert werden, die auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen abgestimmt waren und es mussten neue Rahmenbedingungen für die Prozesse und Arbeitsweisen zwischen den unterschiedlichen Trägern und Einrichtungen geschaffen werden. Des Weiteren musste sich Miller immer wieder mit politischen und bürokratischen Barrieren auseinandersetzen.

Neben der Errichtung neuer Strukturen und Programme hatte Miller noch ein weiteres Anliegen. Er wollte die gesellschaftliche Akzeptanz der Programme steigern, das Ansehen der stationär untergebrachten Probanden in der Gesellschaft verbessern und gleichzeitig die Arbeit in den Jugendanstalten in den öffentlichen Diskurs bringen.

Dabei machte sich Miller vor allem die Presse zu Nutze. Zu Auftritten im Radio oder im Fernsehen nahm Miller stets Probanden aus den Anstalten mit. Er suchte nach Schnittstellen, wo sich die Bevölkerung und die Inhaftierten begegnen konnten. Miller wollte mit diesen Treffen die negativen Stereotype über delinquente Kinder und Jugendliche in der Bevölkerung abbauen.

Gleichzeitig wollte er auch über die inhumanen Haftbedingungen aufklären. Durch seine Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit erhielten Miller und sein Reformprogramm viel Zuspruch und Unterstützung aus der Bevölkerung. Im Gegensatz zu der Zeit vor Millers Amtsantritt war die Mehrheit der Bevölkerung nun für den Abbau von stationären Maßnahmen.

Neue Vorfälle in den Jugendanstalten am Ende des Jahres 1971 halfen Miller dabei, sein Vorhaben schneller als erwartet, in die Tat umzusetzen. Da Miller keine Gesetzesgrundlage für die Schließung der Einrichtungen hatte, kündigte er diese auch nicht an. Anstatt auf dem offiziellem Wege die Schließung der Jugendanstalten anzustreben, was einen enormen bürokratischen Aufwand bedeutet hätte und natürlich auch großen Widerstand bei dem zu kündigenden Personal zur Folge gehabt hätte, machte sich Miller das Recht der Jugendhilfe zur Nutze, die Probanden in für sie und ihren Resozialisierungsprozess geeignete Programme vermitteln zu dürfen. Das Netzwerk der neuen Programme und Maßnahmen kam nun zum Einsatz.

Da es keinen offiziellen Erlass über die Schließung der Einrichtungen gab, verrichteten auch noch Jahre danach einzelne Mitarbeiter in den Anstalten ihren Dienst und wurden weiterhin von der Jugendhilfe dafür bezahlt, obwohl keine inhaftierten Personen mehr dort lebten. Mit dieser Vorgehensweise ersparte sich Miller die Konfrontation mit den Mitarbeitern und öffentliches Aufsehen. Er versuchte jedoch im gleichen Zuge, die Mitarbeiter zu überzeugen, sich in den neuen Programmen zu engagieren. Einige fanden in den zahlreichen Maßnahmen eine neue Arbeitsstelle. Erst knapp zwei Jahre nachdem der letzte Häftling eine Jugendanstalt verlassen hatte, wurde durch den Bundesstaat Massachusetts die endgültige Schließung der Anstalten  verkündet.

Da sich sein Netzwerk von Einrichtungen und Programmen Ende 1971 noch im Aufbau befand, war nicht für alle Probanden ein geeigneter Platz vorhanden. MILLER musste improvisieren und brachte ca. 100 Probanden vorübergehend in der University of Massachusetts in Amherst unter. Dort wurden sie von freiwillig arbeitenden Studenten betreut. Diese sorgten für das Wohlbefinden der Probanden und versuchten sie in geeignete Programme und Einrichtungen zu vermitteln. Mitte 1972 wurden dann auch die letzten drei Anstalten geräumt und die Probanden auf die unterschiedlichen Maßnahmen und Einrichtungen verteilt.

Bei dieser Vorgehensweise von Miller und seinem Team handelte es sich um Pionierarbeit, denn bis dato lagen logischerweise noch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vor, welche der neu eingerichteten Programme bei der Zielgruppe positive Wirkungen erzeugen würden. Viele der Programme verfehlten in der Anfangsphase die erwarteten Erfolge. Durch diese „Learning by Doing“-Praxis bildeten sich letztlich erfolgreiche Programme heraus. Zwischen 1971 und 1972 entstanden über 175 gemeinwesenorientierte und private Programme im gesamten Bundesstaat. Diese waren auf viele unterschiedliche Bedürfnisse spezialisiert. Sie befassten sich mit Drogenentzugsarbeit, Jobtrainings, Kunst- und Kulturprogrammen, Therapeutische Maßnahmen u.v.m.. Das DYS war ebenfalls Träger von Maßnahmen und Programmen, allerdings wurden überwiegend Angebote freier Träger genutzt, die – vertraglich festgelegt – die Maßnahmenpalette des DYS wesentlich ergänzten.

Durch seine unorthodoxen aber effektiven Arbeits- und Vorgehensweisen zeichneten sich in den folgenden Jahren große Erfolge im Jugendkriminalrecht in Massachusetts ab. Miller hatte es geschafft, für alle Beteiligten eine optimale Lösung zu finden. Straffällig gewordene Kinder und Jugendliche wurden in für sie geeignete Programme vermittelt und in ihren Familien bzw. in deren Nähe betreut. Durch Abschaffung von stationären Strukturen wurden die Kosten für diese Form der Unterbringung enorm gesenkt und auch für die Gemeinden hatten seine Lösungen finanzielle und weitere Vorteile. Ein Anstieg der Jugendkriminalitätsrate blieb aus. Die Rückfallquote sank zwar nicht wie von Miller erwartet, stieg aber auch in den folgenden Jahren nicht an. Über Jahrzehnte hinweg hatte der Bundesstaat aufgrund der neu eingerichteten Programme und Maßnahmen die niedrigste Einsperrquote im ganzen Land.

1974 – heute: Fortsetzung und Ausweitung der Reform

Massachusetts nahm in den Jahren nach der endgültigen Aufgabe der Jugendanstalten eine Vorreiterstellung in den gesamten Vereinigten Staaten ein. In den folgenden Jahren „pilgerten“ viele Delegationen von Mitarbeitern der Jugenstrafrechtspflege aus anderen Bundesstaaten und auch aus Europa nach Massachusetts, um sich über die Verfahrensweisen zu informieren und um Ideen für die eigene Arbeit zu sammeln. Viele Programme und Verfahrensweisen wurden danach auch in anderen Staaten übernommen und adaptiert.

In den folgenden knapp 30 Jahren, wurden immer mehr stationäre Einrichtungen für Kinder und Jugendliche in weiteren Teilen des Landes geschlossen und durch alternative Programme und Maßnahmen ersetzt. Allerdings kam es durch Vorfälle Anfang der 90er Jahre zu einem Rückgang im Abbau von stationären Einrichtungen.

Nach einigen schweren Verbrechen (u.a. Vergewaltigungen und Morde) zu Beginn der 1990er Jahre in verschiedenen Bundesstaaten, die durch minderjährige Straftäter, die unter Aufsicht der Jugendhilfe standen, verübt wurden, kam es zu Zweifeln von Politikern und Experten, aber auch der übrigen Bevölkerung, an der positiven Wirkung alternativer Programme. Allerdings war diese Anhäufung von schweren Verbrechen auch durch Einsparungen in der Haushaltsplanung begründet, denn die Ausgaben für Resozialisierungsmaßnahmen für straffällig gewordene junge Menschen wurden immer weiter reduziert. Damit verbunden war vor allem der Stellenabbau in den Handlungsfeldern der Jugendhilfe. Die Programme und Maßnahmen konnten ihre vorherige Qualität nicht mehr halten. Junge Straftäter wurden wieder vermehrt in stationäre Programme untergebracht, sogar kleinere Delikte wurden mit stationären Unterbringungen bestraft. Dies war ein enormer Rückschritt im Jugendkriminalrechtssystem der einzelnen Bundesstaaten und ließ die Inhaftierungszahlen wieder ansteigen und die Rückfallquoten anwachsen. Gegen Ende der 1990er Jahre erfolgte jedoch ein erneuter Kurswechsel in Richtung der alternativen Programme und Maßnahmen.

Es wurden neue Gesetze zur Umstrukturierung der Verfahrensweisen in allen Bundesstaaten verabschiedet. In Massachusetts wurden minderjährige Straftäter zwischen 14 und 18 Jahren, die einen Mord zu verantworten hatten, nicht mehr als Kinder- und Jugendliche betrachtet, die eine besondere Förderung benötigen, sondern sie wurden wie erwachsene Straftäter behandelt. Eine Übergabe an das DYS war in diesen Fällen nicht mehr möglich. Ausgehend von der schwere einer Straftat, konnte nun auch die Zuständigkeitsdauer der Jugendhilfe verlängert werden. Es bestand die Möglichkeit, Probanden bei wiederholten und schweren Delikten bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres unter Aufsicht des DYS zu stellen. Bei allen anderen Tätern im Alter von 7-17 Jahren, die kleinere Straftaten begingen, übertrugen die Richter weiterhin nur die Zuständigkeit an das DYS. Das Department of Youth Services entschied dann über die notwendigen weiteren Maßnahmen und Programme. Bis heute hat sich diese Vorgehensweise nicht geändert.

Zwischenbilanz

Mehr als 40 Jahre nach der Schließung der letzten Jugendanstalt in Massachusetts und trotz der Rückschläge in den 1990er Jahren orientiert sich die Jugendkriminalrechtspflege in den USA wieder an Konzepten, die an Millers Massachusetts-Projekt erinnern. Im Zeitraum von 1995 bis 2010 hat sich die Zahl der inhaftierten Kinder und Jugendlichen in 44 Bundesstaaten um 41% reduziert. Die Inhaftierungsrate von straffällig gewordenen Jugendlichen in den gesamten USA sank in diesem Zeitraum um 38%.

Kalifornien übernahm beispielsweise viele Kernpunkte des Massachusetts-Projekts in das eigene Jungendkriminalrechtssystem. 1997 betrug hier laut JDAI die Anzahl der in staatlichen stationären Einrichtungen untergebrachten Kindern und Jugendlichen 19.899. Bis 2010 wurde diese Zahl um 48% auf 11.532 Inhaftierte gesenkt werden. Dieser rapide Rückgang ist vor allem durch Veränderungen im Rechtssystem begründet. 2007 wurde das Gesetz 881 verabschiedet, das ausdrücklich dazu verpflichtet, jugendliche Straftäter nur noch für ernste und gewalttätige Verbrechen ins Gefängnis zu überführen. Wie bereits zu Millers Zeiten werden straffällig gewordene Kinder und Jugendliche die weniger schwere Straftaten begangen haben in gemeinwesenorientierte Programme vermittelt. Strategien aus dem Bereich der „Juvenile Justice“ tragen ebenfalls zu dieser erfolgreichen Senkung der Inhaftierungszahlen bei. Von 2008 bis 2011 wurden fünf große Jugendanstalten geschlossen. Auch in Texas wurden seit 2007 neun staatliche stationäre Einrichtungen für jugendliche Straftäter geschlossen. Die Anzahl von inhaftierten Kindern und Jugendlichen wurde auch hier enorm reduziert. Von 4.700 Inhaftierten im Jahre 2006 waren 2012 nur noch 1.500 übrig. Alle anderen wurden auf andere Programme und Maßnahmen verteilt. Beide Bundesstaaten bemühen sich, nur noch Kinder und Jugendliche stationär unterzubringen, wenn diese ein schweres Verbrechen begangen haben. Der Anstieg der Jugendkriminalitätsrate blieb in den beiden Bundesstaaten aus und die Rückfallquoten sind unter dem Landesdurchschnitt. Ähnliche Erfolge konnten auch in anderen Bundesstaaten verzeichnet werden.

Die Juvenile Detention Alternatives Initiative als landesweite Koordinationsstelle

Seit 1992 befasst sich vor allem die Annie E. Casey Foundation mit einer landesweiten Initiative, „Juvenile Detention Alternatives Initiative“ (JDAI), die Strukturen und Rahmenbedingungen in den Bundesstaaten schaffen möchte, damit die Inhaftierungsrate von Kindern und Jugendlichen weiter reduziert wird. Gleichzeitig unterstützt die Initiative landesweit alternative Programme mit Konzepten, die sich mit Dokumentations-, Diagnose- und Organisationssystemen, den Aufbau von Netzwerken und weiteren Hilfestellungen befassen. Weiterführend sollen durch die Initiative auch die Erfolge der einzelnen Programme transparent gemacht und deren Wirkungen und Vorteile gegenüber der stationären Unterbringung verdeutlicht werden. Bereits in über 250 Regionen in 40 Bundesstaaten wurden die JDAI-Konzepte in die Arbeit implementiert. JDAI wird mit den Daten aus den unterschiedlichen teilnehmenden Institutionen versorgt, die dann ausgewertet und an die unterschiedlichen Stakeholder weitergegeben werden können. Über das Internet stehen diese Daten auch der Öffentlichkeit zur Verfügung. Dies fördert die Akzeptanz dieser Programme bei der Bevölkerung – eine weitere Parallele zu Millers Aktivitäten in den 1970er Jahren.  Es sichert zudem auch den Zuspruch und die Unterstützung von Förderern.

Die Auswertungsergebnissen von JDAI zeigen, dass Alternativen für den Strafvollzug von jungen Straftätern erfolgreich sein können. Neben der Reduzierung von Rückfallquoten und sinkenden Jugendkriminalitätsraten, werden auch die Kosten für die stationäre Unterbringung gesenkt. Es bleibt die Hoffnung, dass auch in Deutschland ähnliche Initiativen insbesondere für 14-18 Jährige straffällig gewordene Jugendliche entwickelt und systematisch implementiert werden. Eine strategische Systementwicklung, wie sie in den USA durch die JDAI etabliert wurde, fehlt bisher in Deutschland.

Die enorm hohen Raten im Erwachsenenvollzug in den USA mit entsprechend gestiegenen Rückfallquoten und einer Kostenexplosion für das Gefängnissystem führen mittlerweile zu Überlegungen, auch im Erwachsenenvollzug ähnliche Strategien zu verfolgen. Für Deutschland kann gelernt werden, dass die Gefangenen- und die Rückfallraten durchaus steuerbar sind. Notwendig sind nachhaltige Innovationsprogramme, die zugleich die rechtlichen, organisatorischen und  personellen Rahmenbedingungen mit der Zielsetzung gesteigerter Wirkungsorientierung strategisch und operativ verändern. In den deutschen Bundesländern ist die Reform des Jugendstrafvollzugs bisher zu sehr nur auf den geschlossenen und nur zum geringen Teil auf den offenen Vollzug konzentriert. Unterentwickelt sind Verbundsysteme zu den ambulanten Diensten der Jugendgerichtshilfe und der Jugendbewährungshilfe mit gesteigerten Resozialisierungserfolgen.  

 

Quellen                     

Annie E. Casey Foundation (2014): Juvenile Detention Alternatives Initiative.  <http://www.aecf.org/work/juvenile-justice/jdai/>.

Center on Juvenile and Criminal Justice (2014): Juvenile Corrections Reform in Massachusetts. <http://www.cjcj.org/Education1/Massachusetts-Training-Schools.html>.

Department of Youth Services Massachusetts (2014): Public Information Packet. <http://www.mass.gov/eohhs/gov/departments/dys/public-information-packet.html>.

Frey, Susan (2013): Report: Youth incarceration rates drop dramatically. < http://edsource.org/2013/report-youth-incarceration-rates-drop-dramatically/27913#.VDKyLPl_tqV>.

Loughran, E. J. (1997): The Massachusetts Experience: A historical Review of Reform in The Department of Youth Services. In: Social Justice Journal. Vol. 24. Heft 4.

Macallair, D. (2012): The Closing of the Massachusetts Reform Schools and the Legacy of Jerome Miller. <http://jjie.org/closing-of-massachusetts-reform-schools-legacy-of-jerome-miller/>.

Schumann, K.-F. & Voß, M. (1980): Jugend ohne Kerker. Über die Abschaffung der Jugendgefängnisse im Staat Massachusetts im Januar 1972 und die Entwicklung seither. Bremen.

Schweppe, C. (1983): Geht es auch ohne Jugendgefängnisse?. Zur Entinstitutionalisierung jugendlicher Straftäter in den USA. In: Neue Praxis. Jahrgang 13. Heft 2. S. 184 – 1999.

Simmedinger, R. (1986): Was ist aus der Abschaffung der Jugendgefängnisse in Massachusetts (USA) geworden?. Eine Zwischenbilanz im Herbst 1986. ISS-Frankfurt.

Teji, S. (2011): The De-Incarceration of California’s Juvenile Justice System.

<http://jjie.org/deincarceration-of-californias-juvenile-justice-system/59116/>.

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