Rezension von Prof. Dr. Bernd Maelicke zu Bennefeld-Kersten/Christoph (2016): Gehen Sie in das Gefängnise. Gehen Sie direkt dorthin auf socialnet.de

Autorin und Autor

Katharina Bennefeld-Kersten, Jahrgang 1947, promovierte Diplom-Psychologin. Nach dem Studium in verschiedenen niedersächsischen Gefängnissen tätig, zuletzt als Anstaltsleiterin in der JVA Salinenmoor, zuständig für Langstrafige und Sicherungsverwahrte. 2002 bis 2012 Forschungstätigkeit im Justizvollzug, aktueller Forschungsgegenstand „Suizide von Gefangenen“.

Franz-Josef W. Christoph, Jahrgang 1957, Diplom-Theologe und Supervisor. Langjährige Tätigkeit als Seelsorger in der Psychiatrie, im Maßregelvollzug und im Justizvollzug.

Illustrationen: Sabine Wilharm, Jahrgang 1954, freiberuflich tätig für Zeitschriften und Kinderbuchverlage.

Aufbau und Inhalt

In insgesamt zwanzig Beiträgen beleuchten die Autoren alltägliche Situationen, wie sie typischerweise in jedem Gefängnis in Deutschland, Österreich oder der Schweiz stattfinden können. Jede Lebenssituation entwickelt ihre eigene Dramaturgie – das Ende kann heiter aber auch tragisch sein. Diese Pole menschlicher Existenzen sind im Gefängnis so nah miteinander verbunden, dass situativ und jeden Tag neu alles möglich ist: ungebremster und durchschlagender Humor genauso wie Gewalt, Mord oder auch Selbstmord. So ist dieses Gefängnis-Kaleidoskop zugleich auch ein Brennglas, es verdichtet Konflikte und Gefühle in dem untrennbar verbundenen Miteinander von Subkultur der Gefangenen und Hochkultur des Behandlungsvollzugs.

Hinter den Gefangenen und den Mitarbeitern werden Individuen deutlich, die ihre je spezifischen Wahrnehmungen und Reaktionsweisen entwickeln – biographisch und situativ bedingt und strukturell gesteuert von der totalen Institution des Gefängnisses und der Einstellung der Gesellschaft zum Umgang mit Tätern und Opfern.

Jede Geschichte ist eine Momentaufnahme, die in dieser differenzierten Darstellung den Akteuren einigermassen gerecht wird. Zugleich wird aber auch die Komplexität des Gesamt-Zusammenhangs deutlich – es sind im Rahmen der zu verbüßenden Freiheitsstrafen jedes einzelnen Gefangenen nur einzelne Momente, zwar möglicherweise von weichenstellender Bedeutung, sie finden aber in der vollzuglichen Alltags-Routine zumeist nicht diese Differenzierung, Empathie und Sensibilität der Wahrnehmung wie nun in der Nachbetrachtung der Autoren.

Diskussion

Die Fachliteratur zum Gefängnissystem in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist in den letzten 50 Jahren dominiert worden von empirischen Untersuchungen über Teilbereiche des vorherrschenden Behandlungsvollzugs, also z.B. zum Jugendvollzug, zum Frauenvollzug, zum Langstrafenvollzug, zur Sozialtherapie oder auch zu einzelnen Programmen der schulischen oder beruflichen Bildung, zum Sozialen Training, zu Sexual- oder Gewalttherapien. Einzelne Biografien sowohl von Tätern wie von Bediensteten oder komplexe Situationen im vollzuglichen Alltag standen dabei nicht im Mittelpunkt des Interesses.

Ähnlich wie in der Medizin mit dem Entdecken der „personalisierten Medizin“ ist auch in der Fachdiskussion der Resozialisierung innerhalb und ausserhalb von Gefängnissen ein Schwenk zur „personalisierten Resozialisierung“ erforderlich. Breit angelegte empirische Untersuchungen werden der Komplexität der Biographien und Lebenslagen von Tätern und Opfern nicht gerecht, sodass diese Undifferenziertheit der Diagnose nahezu zwangsläufig zu einer sehr begrenzten Wirkung der Behandlungsprogramme führen muss.

Katharina Bennefeld-Kersten findet in dem Kapitel „Macht und Menschenbilder“ für dieses Dilemma den Vergleich mit der „Eirollbewegung der Graugans“, einem Bewegungsablauf, der, einmal in Gang gesetzt, ungeachtet der Notwendigkeit oder Sinnhaftigkeit, von Anfang bis Ende vollzogen werden muss (vgl. dieses Beispiel von Instinkthandlungen bei Konrad Lorenz). In jeder Geschichte dieses Buches wird die Sinnhaftigkeit des Konzepts der Resozialisierung im und durch das Gefängnis mehr und fundierter begründet in Frage gestellt als in jeder noch so brillanten sozialwissenschaftlich abgesicherten Untersuchung.

Fazit

Dem Buch ist schon wegen seiner Lesbarkeit eine weite Verbreitung zu wünschen. In unterhaltsamer Weise werden komplexe Sachverhalte vermittelt, die zwangsläufig zum Nachdenken über Sinn und Unsinn des Gefängnissystems führen. Es sollte als Pflichtlektüre in der Ausbildung der Mitarbeiter des Strafvollzugs eingesetzt werden, ebenso in Schulen und Volkshochschulen. Und es kann Grundlage sein bei einer fachlichen Wende hin zu einer „personalisierten Resozialisierung“.

Das Buch ist kein „leichtes und gemütliches Lesevergnügen für einen entspannenden Abend auf der Terrasse oder vor dem Kamin“ – es ist aufregend und empörend zugleich.

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