Rezension von Prof. Dr. Wolfgang Klug auf socialnet.de zu Maelicke/Wein – Komplexleistung Resozialisierung. Im Verbund zum Erfolg

 

Autoren

 

Bernd Maelicke, Jahrgang 1941, Dr. iur, Ministerialdirigent a. D., Honorarprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg, Gründungsdirektor des Deutschen Instituts für Sozialwirtschaft (DISW), Kiel/Hamburg

 

Christopher Wein, Jahrgang 1984, Sozialarbeiter/Sozialpädagoge M.A., arbeitet seit Oktober 2016 beim Landesverband für Soziale Strafrechtspflege, Straffälligen- und Opferhilfe e. V.

 

Aufbau und Inhalt

 

Zunächst befassen sich die Autoren mit der Ausgangslage der „Resozialisierung“ von Straftätern. Es werden Zahlen und Fakten zu den „drei Säulen“ referiert und das Ungleichgewicht in der finanziellen Ausstattung der Säulen dargelegt:

 

  1. Strafvollzug,
  2. Soziale Dienste der Justiz, sprich: Bewährungshilfe und Gerichtshilfe,
  3. Freie Straffälligenhilfe.

 

Im 3. Kapitel geht es um die kurze Klärung von „Schlüsselbegriffen“:

 

  • Resozialisierung,
  • Komplexleistung,
  • Straffälligenhilfe,
  • durchgehende Betreuung,
  • Übergangsmanagement,
  • Case Management,
  • Care Management,
  • Reso-Management,
  • integrierte Versorgung,
  • Soziale Strafrechtspflege.

 

Der (sehr kursorische) geschichtliche Rückblick im 4. Kapitel geht für die Zeit nach 1990 hauptsächlich auf den Strafvollzug und die diesbezügliche (ab 2006 föderalistische) Gesetzgebung ein.

 

Im 5. Kapitel wird auf knapp drei Seiten ein Fazit zu den rechtlichen Grundlagen der Resozialisierung gezogen, diese werden nicht ausführlich dargestellt, vielmehr wird auf andere Werke verwiesen. Die Bewertung des Resozialisierungsrechtes ist knapp, aber deutlich: „Das derzeitige System aus Bundes- und Landesgesetzen und weiteren Verordnungen ist ein Hindernis, das der Gestaltung eines Gesamtkonzepts für den Bereich der Resozialisierung und der Organisation eines entsprechenden Übergangsmanagements im Weg steht.“ (S. 61)

 

Das Kernstück und bei Weitem umfangreichste Kapitel 6 behandelt die Umfrage unter den Bundesländern zum Thema „Übergangsmanagement“. Die Autoren haben dazu alle 16 Bundesländer aufgefordert, drei Fragen zu beantworten:

 

  1. länderspezifische Definition des Übergangsmanagements,
  2. gesetzliche Grundlagen für das Übergangsmanagement,
  3. Best-Practice-Beispiele aus den Ländern.

 

Alle Bundesländer haben geantwortet, die sehr aufschlussreiche Zusammenfassung dieser Antworten werden auf den nächsten 30 Seiten dargelegt, auf weiteren 30 Seiten greifen die Autoren „Leuchttürme“ aus den Bundesländern auf und stellen sie dar.

 

Im Kapitel 7 kommen „Internationale Entwicklungen“ zur Sprache. Neben länderübergreifenden Regelungen (z. B. European Rules), die zwar keine gesetzlich bindende Wirkung haben, wohl aber anerkannte Standards beinhalten, werden auch länderspezifische Entwicklungen jeweils auf wenigen Seiten beschrieben:

 

  • England/Wales,
  • Norwegen,
  • Österreich,
  • der Schweiz und
  • den USA.

 

Kapitel 8 wiederholt und erweitert die Grundgedanken des Buches mit einem Vorschlag zu einem Landesresozialisierungsgesetz, das bereits in Kapitel 3.3 (Komplexleistung Resozialisierung) erläutert wurde.

 

Case Management ist Thema des 9. Kapitels. Neben den Phasen des Case Management wird dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass Case Management mehr ist als Fallsteuerung im Einzelfall.

 

Das im Vergleich zu den drei vorigen weitaus umfangreichere Kapitel 10 behandelt das „Reso-Management“, also die Umsetzung des Konzepts Komplexleistung Resozialisierung mit der Methode des Case Management. Nacheinander werden Themen aus dem „Reso-Managementkreis“ entwickelt:

 

  • gesetzliche Grundlagen,
  • Ziele und Aufgaben,
  • Organisation,
  • Personal,
  • Finanzierung,
  • Vernetzung,
  • Marketing,
  • Öffentlichkeitsarbeit,
  • Controlling und Evaluation.

 

Kapitel 11 („Reso-Systementwicklung“) ist in gewisser Weise eine Zusammenfassung des bisher Gelesenen. Es zeigt ein integriertes Resozialisierungs-Modell, das aus dem Leitbild Komplexleistung Resozialisierung mithilfe der Hauptleistungsträger (die genannten drei Säulen) ein Regelsystem „Soziale Hilfen“ zusammenbindet. Kernstück sind sogenannte Resozialisierungspläne und Soziale Integrationszentren, die die Hilfeleistungen der einzelnen Akteure koordinieren.

 

Im 12. Kapitel geht es um die Opferorientierung, die Forderung nach Opferrechten und Opferberichterstattung.

 

In Kapitel 13 („Landesresozialisierungs- und Opferschutzgesetze“) berichtet Maelicke, einer der Autoren, von seinen Bemühungen um ein Bundes- sowie ein Landesresozialisierungsgesetz.

 

Das 14. Kapitel formuliert Aspekte von „Forschung und Entwicklung (F&E)“. Zunächst aber werden allgemeine globale Trends beschrieben (z. B. Risikogesellschaft, Wertewandel), dann – ebenso allgemein – Merkmale erfolgreicher Organisationen (z. B. lernende Organisation, Interdisziplinarität), bevor das eigentliche Thema des Kapitels anvisiert wird. Hier wird dringender und grundlegender Entwicklungsbedarf konstatiert, beispielhaft werden einige erfolgreiche kriminologische Forschungseinrichtungen genannt.

 

Es folgt im 15. Kapitel ein Ausblick, der eigentlich weniger ein Ausblick ist (es folgt ja noch ein Kapitel), sondern eher „Desistance“-Forschung heißen könnte, denn diese Erkenntnisse werden hier kurz angesprochen.

 

Das Schlusskapitel bietet einen kurzen Einblick in das Projekt RESI, das in Köln durchgeführt wurde und nach Meinung der Autoren zeigt, wie effektiv die vorher dargelegten Theorien im Hinblick auf Rückfallverhinderung sind.

 

Im Anhang findet sich der Entwurf des Ersten Landesresozialisierungsgesetzes.

 

Diskussion

 

Die Autoren stellen ihrem Buch ein Motto von Heinz Rudolf Kunze voran:

 

„Ich gehe meine eigenen Wege, ein Ende ist nicht abzusehen. // Die eigenen Wege sind schwer zu beschreiben, sie entsteh’n ja erst beim Gehen.“

 

In der Tat beschreibt dieses Motto viel von dem, was auch beim Lesen des Buches zu spüren ist: Da gehen zwei Autoren, der eine sehr jung und am Anfang seiner Karriere, der andere überaus erfahren in den Widerfahrnissen des Themas und in unterschiedlichsten Positionen tätig, ein Stück des Weges gemeinsam und tragen ihrer beider Wissen zusammen. Was beide bei aller Unterschiedlichkeit eint, ist die Leidenschaft für die gelingende Resozialisierung Straffälliger, von der sie zu Recht annehmen, dass im bisherigen System in Deutschland noch viel „Luft nach oben“ ist. In der Tat sind die Zahlen und Fakten, die sie zu Beginn darlegen, überzeugend und belegen das Dilemma sehr gut: Die Ressourcen der drei „Säulen“ der Resozialisierung sind sehr ungleich verteilt. Das Geld, der Großteil der Energie und das überwiegende (personelle) Engagement wird für den Vollzug ausgegeben, die Sozialen Dienste in der ambulanten Versorgung erhalten noch ein bisschen was, die Freie Straffälligenhilfe fast nichts mehr. Und was fast noch schlimmer ist: Die drei Säulen arbeiten nebeneinander her, jeder, der auch nur annähernd in diesem Feld tätig ist, kann dies bestätigen. Für Bernd Maelicke, den Routinier unter den beiden Autoren, ist es diese „irrationale“ Kriminalpolitik, die ihn, wie er in seinem Bestseller „Das Knast Dilemma“ schreibt, auch nach 40 Jahren Beschäftigung empört. Das Problem ist also bekannt, auch die Lösung, die die Autoren vorschlagen, ist es im Grundsatz seit Jahrzehnten. Insofern sind viele der in diesem Buch festgestellten Probleme und Lösungen für den kundigen Leser keine Überraschung, allenfalls macht es sprachlos, dass ein solches Buch immer noch nötig ist.

 

Was in der Tat bereichernd und – nach Auffassung des Rezensenten – sehr lesenswert ist, ist die Umfrage, die die Autoren bei den Justizbehörden gemacht haben. Sie gibt einen guten Überblick über den derzeitigen Stand des Übergangsmanagements, zumindest aus der Perspektive der Bundesländer, die nach der Föderalismusreform von 2006 alleine für Resozialisierung verantwortlich sind. Interessant ist, was die Bundesländer auswählen, wenn sie ihre besten Modelle beschreiben sollen. Da erläutert z. B. Bayern Berufsintegrationsprojekte für Jugendliche und als „Leuchtturm“ ein rein privat finanziertes Modell („Projekt Leonhard – Unternehmertum für Gefangene“), während Mecklenburg-Vorpommern seine (beispielhaften) Vernetzungsstrukturen hervorhebt und Brandenburg überhaupt kein Projekt benennt. Insofern ist bei manchen Bundesländern nicht nur aufschlussreich, was sie beschreiben, sondern was sie weglassen: Wenn die Vernetzung der „Säulen“ der staatlichen Justizbehörden im eigenen Land überhaupt kein Thema ist, sagt das viel mehr aus als manche „Leuchttürme“. Denn was nützt ein Modell, das irgendwo im Land gut funktioniert, wenn die Versäulung und strukturell nicht abgesicherte Kooperation der landeseigenen (!) Dienste seit Jahrzehnten für sakrosankt und unabänderlich erklärt wird? Wem helfen „Leuchttürme“, wenn in der Regelversorgung die Zustände seit 50 Jahren kaum vorankommen und man sich offenbar in vielen Bundesländern daran gewöhnt hat, dass Bewährungshilfe und Justizvollzug säuberlich getrennt nebeneinanderher arbeiten?

 

Hier wünscht man sich als Leser natürlich konkrete und kantige Modelle, die über allgemeine Beschreibungen von Case Management und Reso-Management hinausgehen. So wichtig die Darstellung der Notwendigkeit und allgemeine Ausrichtung der Vernetzung ist, so nötig ist es auch, über die „Mühen der Ebene“ nachzudenken, die Frage nämlich, wie konkret die Zusammenarbeit der justizeigenen Sozialen Dienste vor Ort und deren Netzwerk mit freien Trägern aussehen kann. Hier kann es natürlich – und das macht die Sache komplex – durchaus nicht nur darum gehen, die entsprechende Hilfeleistung für diejenigen der Straftäter bereitzustellen, die eine solche wollen. Vielmehr müssen Soziale Dienste auch rückfallpräventiv im Sinne einer evidenzbasierten Praxis agieren, und sie müssen das koordiniert tun, notfalls gegen den Willen des Straftäters. Angesichts des Scheiterns so vieler Bemühungen um ein flächendeckendes Übergangsmanagement könnte man auch eine vertiefte Reflexion der Gründe für dieses Scheitern für sinnvoll erachten. Die Diskussion um den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Bewährungshilfe und der Straffälligenarbeit (BR-Drucksache 201/2014) mit Stellungnahmen der Verbände darf dabei ebenso wenig fehlen wie die Beantwortung der Frage, warum ein so überzeugendes Organisationsmodell wie das in Mecklenburg-Vorpommern bis heute ein Solitär geblieben ist und auch viele Sozialarbeiter/innen an einer dysfunktionalen und professionsuntauglichen Anbindung an Landgerichte festhalten. Die Autoren verweisen in ihrer Ursachenanalyse auf eine Verschiebung im „kriminalpolitischen Kraftfeld“ zwischen Wissenschaft, Politik, Bürger, Rechtsprechung, Medien und Praxis. Die genannten Kräfte seien 1977 noch annähernd gleich stark gewesen, jetzt aber verschiebe sich das Kraftfeld auf die Pole Medien und Politik, die Wissenschaft habe ihre Kraft verloren (S. 184). Das kann man sicher so sehen, die Frage stellt sich allerdings, ob es als Erklärung ausreicht, die Medien und ihren Einfluss auf die Politik für die Miseren mangelnder Vernetzung verantwortlich zu machen, die wohlgemerkt auch schon 1977 bestanden haben. In diesem Zusammenhang ist es sicher keine Stärkung in der medialen Präsenz und Durchsetzungsfähigkeit politischer Interessen, wenn nun zwei Entwürfe eines Landesresozialisierungsgesetzes vorliegen, in dem hier besprochenen Buch der „Erste Diskussionsentwurf“. Da man von der Öffentlichkeit im Kraftfeld der Pole Medien? Politik keine Synopsen beider Entwürfe erwarten kann, wären Erläuterungen nicht schlecht: Was sind die entscheidenden Unterschiede, die den Ersten Entwurf (Maelicke) von dem Zweiten Entwurf (Cornel u. a.) so unterscheiden, dass der Erstgenannte glaubt, sich abgrenzen zu müssen? Wo sind die Streit- und Konsenspunkte, warum kommen die Autoren bei offenbar gleichlautender Zielsetzung und gemeinsamer Vorarbeit in welchen Punkten zu unterschiedlichen Lösungen?

 

Noch einmal soll die Stärke des Buches herausgehoben werden: Sie liegt in dem leidenschaftlichen Appell zur Veränderung der Resozialisierungspraxis und den Grundinformationen, die zur Lösung bereitgestellt werden. Hier können und müssen nachfolgende Generationen, zu denen ja der jüngere der Autoren gehört, anknüpfen und das Werk weiterführen. Auch für den Leser, der sich einen Überblick über die Modelle des Übergangsmanagements verschaffen will, die derzeit von den Länderjustizverwaltungen als solche gesehen werden, ist das Buch eine Fundgrube von verschiedenen Facetten dieses Themas. Und was bleibt, ist natürlich die Anerkennung für das Anliegen, das Bernd Maelicke unermüdlich seit nunmehr 40 Jahren mit Leidenschaft und Sachverstand in die Lande trägt und das auch aus Sicht der Wissenschaft seit Jahrzehnten oben auf der Agenda steht.

 

Fazit

 

Das Buch gibt durch seine Befragung der Justizministerien einen sehr guten Einblick in Modelle der Vernetzung der Hilfsdienste innerhalb und außerhalb der Justiz. Es spricht die wichtigsten Theoriestränge an und verknüpft diese zu einem sinnvollen Konzept. Aus wissenschaftlicher Sicht wäre eine weitere vertiefte Auseinandersetzung mit den methodischen und praktischen Grundlagen der Vernetzung sozialer Dienste sinnvoll.

 

 

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